Landschaftsarchitektur – «Es geht um das Lebendige»

Andreas Kipar, Gründer und Direktor der interdisziplinär arbeitenden Planungsgruppe LAND, äussert sich zur Situation der urbanen Landschaft.

Andreas Kipar
Dr. Arch. Dipl.-Ing. Andreas O. Kipar: «Auch heute, in nicht ausser Acht zu lassenden Krisenzeiten, richten wir den Blick weit nach vorn, denn für unser Schaffen zählt langer Atem und positives Denken.»
Andreas Kipar, Gründer und Direktor der interdisziplinär arbeitenden Planungsgruppe LAND, äussert sich zur Situation der urbanen Landschaft.
Das Portfolio von LAND besteht aus Stadt- und Landschaftsparks, Wasserlandschaften, revitalisierten industriellen und urbanen Brachflächen sowie Retail- und Firmenlandschaften. Die internationale Ausrichtung spiegelt sich wider in zahlreichen Projekten im Ausland, darunter Russland, die Türkei, Brasilien und der Nahe Osten mit der Expo 2020 in Dubai. Mit Andreas Kipar, Gründer und Direktor von LAND, sprach «Architektur + Technik» über den multidisziplinären Ansatz des Unternehmens und das Zusammenspiel zwischen Infrastruktur, städtischen Siedlungen und einer kulturell produktiven und nachhaltigen Landschaft.LAND steht für Landscape, Architecture, Nature und Development. Warum haben Sie gerade diese Begriffe gewählt?
Wenn wir gerufen werden, geht es meist darum, Wachstumsstrategien, Transformationen oder Pläne mit den Qualitätsansprüchen an den öffentlichen Raum, an die urbane Landschaft festzumachen. Deshalb steht das L, die Landschaft, am Anfang. Mit ihr fängt alles an. Doch ohne die Menschen, die in ihr leben beziehungsweise sie produziert haben, kann man die Landschaft nicht verstehen. Den Abschluss macht das D, das Development, denn es geht schlussendlich immer um Entwicklungsmassnahmen. Die Mitte bilden das A und das N, also die Architektur und die Natur. Sie sind die Pfeiler, die Energiepole des Schaffens. Spätestens seit Jeremy Rifkins Worte «Stop war on nature», wissen wir, dass wir nicht mehr gegen die Natur arbeiten dürfen, sondern mit ihr. Die Architektur und der Städtebau richten sich heute immer stärker an natürlichen, organischen Elementen aus. Dieses Zusammenspiel bedingt, dass die so gedachte Landschaftsarchitektur etwas ist, das aus den engen Grenzen von Garten und Park herausspringt und neue urbane Bezugslandschaften fördern will.

LAND ist also nicht nur projektorientiert, sondern auch immer stärker prozessorientiert ausgerichtet. Und dies unter einem multidisziplinären Dach.
1990 durfte ich mit dem italienischen Agronomen Giovanni Sala, meinem jetzigen Partner, bei drei Grossprojekten zusammenarbeiten. Es ging um die Wiedernutzung der Industriebrachen von Pirelli, Maserati und Fiat. Aus dieser Zusammenarbeit heraus gründeten wir in Mailand LAND.

Schon bei der Gründung war uns bereits bewusst, dass die Landschaftsarchitektur nicht allein im Mittelpunkt stehen kann. Der Fokus musste ebenso auf dem Lebendigen, auf dem Boden, auf den Pflanzen liegen. Es geht um das Ökologische. Und zu diesem Schluss kamen wir in dem damals noch sehr grauen Mailand. Es gab einiges zu tun für uns. Und wir konnten seitdem dort viele Bäume pflanzen und Industriebrachen begrünen und an städtebaulichen Projekten mitarbeiten. Das hat natürlich Wurzeln geschlagen und besonders unsere multi- und interdisziplinäre Ausrichtung geprägt. Unsere Mitarbeiter sind heute Naturwissenschafter, Biologen, Agronomen und natürlich Planer, Architekten und Ingenieure. Von meinem heutigen Standpunkt aus kann ich sagen: Entscheidend in der Planung ist, all diese verschiedenen Perspektiven zusammenzubringen, miteinander sprechen zu können sowie die konstruktive Diskussion.

Kommt hier die Sichtweise zum Tragen, wer anderes Denken ausschliesst, kommt nicht weiter?
Richtig. Ein gutes Beispiel dafür ist der Behelfstunnel für den Gotthardtunnel in Airolo. Hier muss der Blick auf das gesamte Tal gelenkt werden. Wir durften gemeinsam mit Kollegen, Ingenieuren und Verkehrsplanern für die Gemeinde eine Kommission leiten. Die übergreifende Zusammenarbeit hat dazu geführt, dass in Airolo nun doch das Tal für die Landschaft zurückerobert werden kann. Dieses Beispiel macht ausserdem einen Unterschied zu früheren Zeiten deutlich: Vor hundert Jahren hatten die Leute Eroberungsstolz, Bauwerke in die Landschaft zu setzen. Heute wird von vornherein auf eine Verträglichkeit mit der Landschaft Wert gelegt. Der Aushub vom Tunnelbau wird in die Landschaft positioniert, um so ein ganz neues Landschaftsportal zu finden. Dies ist das neue Denken einer neuen Union zwischen Ingenieurstechnik, Landschaftsarchitektur und Umwelt. Und das ist es, was uns bei LAND umtreibt. Wir sehen immer stärker die Forderung nach integrierten Handlungskonzepten, weg von einzelnen, isolierten Projekten.

Dafür ist Ihr Schaffen in Mailand Voraussetzung und auch Vorbild. Dort haben Sie eine grüne Entwicklung eingeleitet.
Eine grüne Entwicklung ist entscheidend, denkt man von der Landschaft her. Hierbei möchte ich betonen, dass Landschaft keine Grenzen kennt. Ein entscheidendes Privileg von LAND gegenüber jenen Architekten, die auf einem kleinen Baulos arbeiten müssen. In Mailand, einer Stadt, die mit einer Fläche von 180 km² keine grosse Ausdehnung hat, mussten wir daher die Idee der «Raggi Verdi» (grüne Strahlen) entwickeln, die vom Zentrum in die Aussenbezirke laufen. Darauf aufbauend haben wir für die gesamte Stadt eine grüne Grundkonzeption entwickelt.

Benötigen Sie dafür bestimmte Rahmenbedingungen, oder ist so etwas überall möglich?
So etwas ist überall möglich. Es muss nur versucht werden, über Einzelprojekte die urbane Landschaft zu verstehen. Aber man muss unbedingt weiterdenken, denn Landschaft kann man nicht verstehen, ohne die Menschen, ohne die Stadt nicht auch verstanden zu haben. In Mailand hat alles mit den «Raggi Verdi» begonnen. Sie sind heute, nach Jahren intensiver Arbeit, im Flächennutzungsplan der Stadt festgeschrieben. Nach Mailand konnten wir das Konzept in Rom mit dem «Arcipelago Verde» weiterentwickeln. In Venedig durften wir das Projekt «Porto Marghera» umsetzen. In Essen konnten wir mit dem Konzept der «Drei Strahlen» sogar eine Partnerschaft mit Mailand aufbauen. Kürzlich folgte in Moskau die «Moskow Green Strategy».

Wie sehen Sie das Verhältnis der Menschen zu ihrer gebauten Umwelt?
Über das Gebaute haben wir uns über Jahrzehnte gut verständigen können. Es existieren gute Normen und Praktiken. Und doch besteht mittlerweile ein bürgerlicher Widerstand gegen das Gebaute. Das hat unter anderem mit negativer Wahrnehmung zu tun. Wir fühlen uns alle bedrängt. Ein Grund ist sicherlich die schnelle Urbanisierung und das damit zusammenhängende schnelle Verdichten. Zählt man den sozialen Trend der «Shared Society», dazu und ausserdem noch den Klimawandel, der überall mit Starkregenfällen und Extremtemperaturen äusserst präsent ist, dann ist die Sorge der Menschen um ihre Zukunft verständlich. Die Angst davor, dass der letzte grüne Fleck bebaut wird, ist teilweise auch berechtigt.

Wie sehen Sie die weitere Entwicklung?
Die Sorge und die Angst, die ich gerade erwähnt habe, führen zu einer grösseren Sensibilisierung der Menschen gegenüber ihrer Umwelt. Öffentliche Räume und Landschaft werden als Allgemeingut angesehen, für das Sorge getragen werden muss. Auf der einen Seite müssen diese Freiräume ökologischen Service anbieten – sie müssen Leistung bringen im Sinne des Öko-Haushaltes und des Kleinklimas –, auf der anderen Seite müssen sie aber auch soziale Reflexionsfläche für den interkulturellen Austausch der Bürger bieten. Schliesslich sind diese Freiräume Treffpunkte für die Bevölkerung. Sie sind ein Garten für alle. Die traditionellen Parkkonzepte, die sehr stark auf Ornamentales ausgerichtet waren, bieten nicht mehr die richtige Lösung. Ich sehe hier grosse experimentelle Parks, die dazu einladen, sich zu verwirklichen.

Worauf wird der Fokus gelegt werden müssen?
Es geht heute nicht mehr um neue Planungstheorien, Pla-nungsideologien, Postmoderne, oder was man auch immer in die Diskussion werfen will. Es geht immer stärker um Wahrnehmungsstrategien: Wie nehmen Bürger ihre eigene Stadt wahr? Als Beispiel möchte ich einmal mehr Mailand anführen. Die Stadt hat einen wunderbaren Sprung nach vorne gemacht. Der Mailänder hat seine Stadt immer als kleine, graue Industriestadt gesehen. Hier verdiente man gutes Geld, aber am Freitagabend wollten alle ans Meer, in die Berge oder an die Seen. Spätestens mit der Expo 2015 hat es in den Köpfen Klick gemacht. Viele ausländische Besucher sahen in Mailand eine attraktive Metropole mit erholsamen Freiflächen. Und plötzlich nahmen die Mailänder dies auch selbst wahr. Es ist ähnlich dem Placebo- und Nocebo-Effekt: Wenn andere Leute sagen, man sähe schlecht aus, dann fühlt man sich irgendwann auch schlecht. Und umgekehrt passiert dasselbe.

Sie sagten einmal, ein Landschafts-Architekt müsse die Landschaft beobachten, ihr zuhören und daraus neue Dialoge entwickeln.
Das ist das Wichtigste! Wir können aus der Genese der Landschaft lernen. Es gibt Gebiete, die heute nicht mehr kultiviert werden. Nehmen wir die Cinque Terre an der ligurischen Küste. Ich nenne sie eine Leidenslandschaft. Hier herrschte nie grosse Freude. Stattdessen gab es hier immer viel Armut. Die Bewohner mussten der Natur jeden Quadratmeter hart abringen. Um anbauen zu können, bauten sie Stützmauern. Dieses System hat jahrhundertelang funktioniert. Aber wenn niemand mehr den Boden kultiviert, bricht dieses System zusammen. Deswegen ist es so wichtig, die Entwicklungsprozesse von Landschaften gut zu studieren. Daraus erkennt man, wann gewisse Landschaftsgefüge nicht mehr funktionieren können. Und das bewegt uns bei LAND. Das lässt uns fragen: Wie schaffen wir es, bei unseren Projekten diese Themen mitzudenken, und wie schaffen wir es, auf die Fragen, die diese Themen bedingen, eine Antwort zu geben?

Sie hinterfragen Ihre Arbeit, noch bevor Sie damit beginnen?
Lassen Sie es mich so formulieren: Wir definieren das Warum unserer Projekte. Und das geht heute nur in einem sowohl interdisziplinären als auch multidisziplinären Austausch. Denn nur dort, wo unterschiedliche Meinungen und unterschiedliche Fähigkeiten des Beobachtens aufeinandertreffen, kann so etwas funktionieren. Diese Grundhaltung, diese Grundphilosophie wird von LAND getragen. Gleichzeitig wissen wir, dass sich in Zukunft hier noch sehr viel Bedarf entwickeln wird.

Hier sehen Sie also die Landschafts-Architektur gefordert, Antworten zu geben?
Wir sind gefordert, diese Antworten zu geben, obwohl wir wissen, dass alles immer noch auf Wachstum ausgerichtet ist. Das ändern unsere Antworten nicht von heute auf morgen. Man kann nicht einfach sagen: «Wir hören mit Wachstum auf.» Aber wir werden nicht aufhören, am Wandel mitzuarbeiten. Ich folge dabei auch gerne Christian Morgenstern. Für ihn hatte jede Landschaft« ihre eigene besondere Seele, wie ein Mensch, dem du gegenüber lebst». Nur dort, wo ein Austausch mit dem Gegenüber stattfindet, können wir auch zu dem Gegenüber eine Haltung definieren. Ich denke, es tut gut, wenn die Projekte einer orts- und landschaftsbezogenen Haltung entstammen. Viele der Projekte kränkeln jedoch, weil sie eine Autorenhaltung haben. Aber die Autoren müssen ja nicht in ihrer eigenen Landschaft leben. Das grösste Kompliment, das einem Landschafts-Architekten gemacht werden kann, ist es, nicht bemerkt zu werden. Die Menschen fühlen sich in der Landschaft einfach wohl, ohne nach dem Landschafts-Architekten zu fragen. Das ist jedoch nicht ohne Strategien zu erreichen.

Wie zeigt sich dies in der Praxis?
Unsere Projekte erzählen Geschichten, die sich weiterspinnen lassen und die Dekaden in Anspruch nehmen. Wir verfolgen eine Strategie des langen Atems. Viele kleine Projekte, die das Thema immer wieder hochhalten. Bei den Menschen wecken beziehungsweise festigen wir das Interesse an der Wiederentdeckung der eigenen Landschaft. Das können wir nur, wenn wir uns mit den Landschaften vor Ort beschäftigen und sie verstehen. Und Landschaft ist nur über die Menschen, die dort leben, zu verstehen. Das ist Landschafts-Architektur im Sinne eines Dienstes an einer Gesellschaft, die heute wieder den öffentlichen Raum entdeckt.

«Die Angst davor, dass der letzte grüne Fleck bebaut wird, ist teilweise auch berechtigt.»
Andreas Kipar

Der Werdegang von Andreas Kipar

Andreas Kipar, Dr. (I) Arch. Dipl-Ing, studierte von 1980 bis 1984 Landschaftsarchitektur an der Universität GHS Essen und von 1989 bis 1994 Architektur und Städtebau am Polytechnikum Mailand, wo er seit 2009 Public Space Design lehrt. Andreas Kipar ist ordentliches Mitglied der Deutschen Akademie für Städtebau und Landesplanung (DASL), des Bundes deutscher Landschaftsarchitekten (BDLA, dessen Präsidium er seit 2009 angehört), der Italienischen Vereinigung der Landschaftsarchitekten (AIAPP) des italienischen Instituts für Urbanistik (INU) und der Deutschen Gesellschaft für Gartenkunst und Landschaftsarchitektur (DGGL). Seit 2009 ist Andreas Kipar Mitglied des Kuratoriums der Stiftung «Die Grüne Stadt». Mit seinen Partnern und Mitarbeitern arbeitet er in Büros in Italien, der Schweiz und Deutschland. LAND Italia, LAND Suisse und LAND Germany sind Schwesterunternehmen der LAND Srl, die im Jahr 1990 gegründet wurde.

Zu den Projekten

LAND ist ein international agierendes Design-Büro für Landschaftarchitektur. Wie ein roter Faden zieht sich die Idee der «grünen Strahlen», die meist sternförmig vom Zentrum in die Aussenbezirke verlaufen durch die Projekte. Auf den folgenden Seiten zeigen wir eine Auswahl der wichtigsten LAND-Projekte. Hier wird die Vision von Andreas Kipar nachvollziehbar und sein Einfluss, den er auf die Landschafts-Architektur hat, deutlich.

Parco Portello
Das Projekt Parco Portello befindet sich auf den ehemaligen Fabrikgeländen von Alfa Romeo und Lancia. Das Areal fügt sich nahtlos in den städtischen Kontext seiner Umgebung ein.
Bicocca-Intervention
Die Bicocca-Intervention auf dem Gelände des ehemaligen Pirelli-Werksim Nordosten von Mailand begann bereits 1994.
Strahlenkonzept
Das Essener Strahlenkonzept dient der Entwicklung der Grün- und Freiraumflächen.Die Fliessgewässer sind dabei ideelle Leitlinien (Strahlen).
(Visited 58 times, 1 visits today)

Weitere Beiträge zum Thema